Wenn die Aufgabe schier übermächtig wird

Verabschiedung Pfr. M. Wirth, Bad Reichenhall
Bildrechte W. Bauregger

Evangelischer Stadtpfarrer Wirth mit emotionalem Festgottesdienst von seinen Pflichten entbunden

 
erschienen im Reichenhaller Tagblatt am 10.08.2020, Text und Bild: Werner Bauregger

 

Bad Reichenhall. Mit einem Festgottesdienst in der evangelischen Stadtkirche Bad Reichenhall wurde der evangelische Stadtpfarrer Martin Wirth von Dekan Peter Bertram aus Traunstein offiziell in den Ruhestand verabschiedet. Wegen der strengen Coronabestimmungen war nur eine begrenzte Zahl an Festgästen möglich. Diese erlebten eine sehr emotionale Messe, in der Pfarrer Wirth noch einmal seine Gabe zeigte, das Wort Gottes in einer Art und Weise zu verkünden, die unter die Haut geht, anspricht, anregt und die Gläubigen nicht verschont, sondern fordert.
Diese Gabe, viele weiter herausragende Talente, aber auch einige Krisen und Niederlagen zehrten offenbar langfristig so an der Substanz des Seelsorgers, dass letztlich die Kraft nicht mehr reichte, die zum Führen einer Pfarrei zwangsläufig notwendig wäre, wie Wirth selber erkennen musste. Wie sich die Gläubigen fühlen, brachte die Vertrauensfrau des Kirchenvorstandes Renate Graßl auf den Punkt: „Äußerlich geben wir uns feierlich und festlich. Innerlich sind wir traurig!“

Welch geschätzte Persönlichkeit Pfarrer Wirth ist, zeigt die Liste der Ehrengäste. Neben Dekan Bertram waren  unter anderem der Oberkirchenrat Michael Martin, der katholische Stadtpfarrer Markus Moderegger, Landratstellvertreter Michael Koller, Oberbürgermeister Dr. Christoph Lung, das Pfarrerehepaar Claudia und Andrea Buchner und Mitglieder aus Gremien beider Stadtkirchen gekommen. Für den hörenswerten musikalischen Rahmen sorgten Kantor Matthias Roth,  Kantorin Margarethe Schlegl und das Blechbläserensemble der Stadtkirche. Den Gottesdienst leitete Pfarrer Thomas Huber, der die zweite evangelische Pfarrstelle besetzt.
Als Grundstoff seiner letzten offiziellen Predigt als Stadtpfarrer bezog sich Martin Wirth auf das Tagesevangelium, in dem es um die Berufung des Propheten Jeremia geht. Dieser habe sich nicht vorstellen können, das Wort Gottes den Menschen zu verkünden, und meinte zu Jesus, dass er zu jung dafür sei. Jesus hingegen sagte ihm, dass er ihn schon im Mutterleib als Propheten auserwählt habe. „Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund“ und „ich bin mit dir“, habe Jesus  Jeremia Mut zugesprochen. Der Auftrag war,  auszurotten, niederzureißen, zerstören und abzubrechen, um danach bauen und pflanzen zu können – für Jeremia, der sich als kleiner schwacher Mensch sah,  eine schier übermächtige Aufgabe.
Auch Pfarrer seien berufen, dem Evangelium zu dienen und die Worte an die Kirchengemeinde weiterzugeben, zog Wirth eine Parallele. Im Gegensatz zu Staatsdienern seien Pfarrer  aber  ungebunden. Maßgabe und Orientierung  seien allein, das Wort Gottes in Freiheit auszurichten. Trotz innerer und äußerer Kämpfe sei diese Freiheit auch wichtig für die Kreativität.
Er selber habe sein Pfarramt und sein Wirken in allen Situationen und Funktionen immer so verstanden, dass er nicht Verwaltungsdiener sei, sondern von Gott selber eingesetzt, seine Worte zu verkünden. Hier in Bad Reichenhall habe ihm und den Kirchengremien angesichts der Herausforderungen der Kopf oft geschwirrt, gab Wirth offen Einblick in sein Inneres. Deshalb sei es notwendig gewesen, sich auf Kernaktivitäten zu konzentrieren und zu tun, was möglich war. Der Rest habe sich finden müssen.
Vieles habe aber sehr viel Kraft gekostet, sodass das „Ende“ schneller gekommen sei als erwartet. Einige Operationen und letztlich die Erschöpfung hätten ihn gezwungen, genauer hinzuschauen, ruinöse Grundmuster zu erkennen und sich mit den eigenen Schattenbereichen zu beschäftigen. Auch hier seien die  Worte Jesu an Jeremia und die Botschaften des Evangeliums hilfreich gewesen, um diese überraschende Wende annehmen zu können. Die evangelische Kirchengemeinde Bad Reichenhall habe seit 1881 den Auftrag, die Gnade Gottes an Urlauber, Menschen jeder Nation, alte Menschen oder Suchende im Glauben auszurichten, denn für Gott sei jeder Mensch wichtig. Gefallen wollen sei aber  nicht der Auftrag, auch nicht „Vanillesauce über faules Obst zu kippen“, sondern, „Feuer auf die Erde zu werfen“. Sich auf das Wort Gottes einzulassen, sei also gefährlich, wie man letztlich an den Schicksalen Jeremias, Jeseias und Jesu sehen könne. Auch Dietrich Bonhoeffer habe sein Leben verloren, weil er  gegenüber dem Naziregime im Glauben unbeugsam und dem Evangelium treu geblieben sei.

Er selber habe auch durch viele Krisen gehen müssen, habe Fehler gemacht, sei schuldig geworden und sei vieles schuldig geblieben, gestand der Pfarrer zum Abschied seiner Gemeinde. Doch auch hier hätten die Worte Jesu „Fürchte dich nicht“ getragen. Gerade solch krisenerprobte Diener und Kirchengemeinden berufe Jesus, weil er Begegnung wolle, nicht Selbstgenügsamkeit. Wichtig sei es, nach dem Glauben hungrig zu bleiben und sich nicht sättigen zu lassen.
Dekan Peter Bertram bestätigte, dass uns Gott etwas zutraue, auch wenn das Leben nicht nur Er-folgsmeldungen biete und vieles scheitere. Gerade Martin Wirth sei ein leidenschaftlicher Mensch mit vielen Interessen, Gaben und Fähigkeiten und: „Er hat was zu sagen!“ Wirths Stärke sei die Spra-che, die Fähigkeit zu diskutieren, sich theologisch verständlich auszudrücken und musikalische Akzente zu setzen.
Die angesprochene Freiheit habe er immer mit großer Verantwortung wahrgenommen, sich immer fürsorglich gezeigt mit weitem Blick über den eigenen Kirchturm hinaus in die Welt. Es seien ihm viele Gaben mitgegeben, aber dadurch auch viel von ihm abverlangt worden, so wie er wiederum auch seinen Gesprächspartnern einiges abverlangt habe. Neben dem Alltagsgeschäft sei er bereit gewesen, sich in viele zusätzlichen Dienste und Posten berufen zu lassen und habe auch diese mit Herzblut aktiv ausgefüllt. „Sie sind ein Typ, von denen es nicht viele gibt“, rief er Wirth zu. Deshalb sei es schwer, ihn gehen zu lassen.

Als kleine Lektüre für ein neues Lebensgefühl überreichte der Dekan  Wirth das Büchlein „Das Schwere leicht gesagt“ von Hanns Dieter Hüsch. Danach entband Dekan Bertram Martin Wirth offiziell von seinen Pflichten als Pfarrer und endete mit den Worten Dietrich Bonhoeffers: „von allen Mächten wunderbar geborgen“.  Mit einem Blumenstrauß für Wirths Frau Gertraud und einem Buch von  Bonhoeffer sagte Bertram „Vergelt’s Gott“, begleitet von minutenlangem Applaus.
Pfarrer Thomas Huber versäumte es abschließend nicht, sich bei allen  zu bedanken, die sich etwa um  Blumenschmuck,  Einladungen, Sitzplan und musikalische Gestaltung gekümmert hatten. Kantor Roth beendete den Gottesdienst mit einem festlichen Orgelstück.

 

Festredner würdigen die segensreiche Arbeit von Martin Wirth

In seinen Grußworten dankte der stellvertretende Landrat Michael Koller Martin Wirth für die Arbeit, die er auch für das Berchtesgadener Land geleistet habe. Die Worte Jesu: „Fürchte dich nicht“ seien insgesamt 365 Mal in der Bibel zu finden, also könne man jeden Tag eine Türe für Christus weit aufreißen. Dem Scheidenden wünsche er Freude mit Jesus ein Leben lang, auch über den Ruhestand hinaus.

Oberbürgermeister Dr. Christoph Lung bedankte sich für das segensreiche Wirken an und für die Stadt Bad Reichenhall. Er habe zwei markante Punkte  in Erinnerung behalten. Bei einer Messfeier in Marzoll, bei der Lung als Musiker eingesetzt war, hatte Wirth zu einem Rüstgebet gerufen, um alle auf das Wesentliche dieser Feier einzustimmen. Als zweites habe er viele gute Predigten im Gedächtnis, in denen Wirth auch sehr komplexe Sachverhalte verständlich zu erklären wusste. Als Geschenk überreichte Lung den  Bildband  „In die Berge“, in dem es um die Geschichte des Alpinismus geht.

Von Pfarrer Thomas Huber als Improvisationskünstler angekündigt, ging der katholische Stadtpfarrer Markus Moderegger als erster auf die von Wirth erwähnten „ruinösen Grundmuster“ ein und erinnerte an die Worte des Apostel Paulus  „Da wo ich schwach bin, da bin ich stark“. Dies helfe vielleicht, darauf mit einer anderen Wahrnehmung zu schauen.  Er habe mit Wirth oft theologische Gespräche auf hoher Ebene geführt und einen Menschen erlebt, der sich für die Menschen einsetzt. Gemeinsame Abende auf einer Almhütte hätten zudem gezeigt, dass Leib und Seele zusammengehören. Bezugnehmend auf die Lesung erinnerte Moderegger daran, dass Elias Gott in der Stille erfahre. Die Stille, die jetzt bei Wirth eintrete, könne geeignet sein, Gott ganz neu zu erfahren. Im Namen der Stadtkirche dankte er Martin Wirth für die gute Zusammenarbeit und persönlich für die Freundschaft.

Renate Graßl, Vertrauensfrau der evangelischen Stadtkirche, erinnerte sich angesichts der Frage „Wohin fliegen wir?“ ans Skifahren. Wirth sei sehr gerne „Schuss“ gefahren  und habe zusätzlich eine Schanze gesucht, über die er abheben konnte. Mit Charisma und Begeisterungsfähigkeit habe er es immer geschafft, die Menschen  mitzunehmen, auch wenn der Landeplatz oft erst während des Flugs gesucht wurde. So sei es zum Beispiel beim Verkauf des Gemeindehauses gewesen. Das die berufliche Landung nun so schnell vonstatten gehe, habe niemand erwartet. Für den wohlverdienten Ruhestand habe sich die Kirchengemeinde ein besonderes Geschenk ausgesucht.  Zum erworbenen Campingbus gab es  Campingstühle mit einer extra Beinstütze für Frau Ursula sowie einen Gutschein für eine Sternenwanderung mit Sternenbeobachtung auf der Winkelmoosalm mit dazu.

Pfarrer Thomas Huber wandte sich an Pfarrer Wirth im Namen seiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Dekanat Traunstein Süd, von denen viele auch anwesend waren. In Erinnerung bleibe, dass Martin Wirth es auf geniale Art und Weise immer schaffte, auch zutiefst einfache Alltagsgeschehnisse mit Begeisterung ausladend theologisch zu begründen. Es blieben aber auch viele Erinnerungen an gesellige Unternehmungen. Im Namen des Regionalkapitels überreichte er Wirth eine kleine Zusammenstellung aus seinem Wirken in diesem Gremium mit den Worten: „Danke, dass Du ein Teil des Kapitels warst!“

Martin Wirth bedankte sich sichtlich bewegt für alle  sehr persönlichen Worte und  wunderbaren Erinnerungen und sagte einfach: „Auf Wiederschaun“. Die Gäste dankten ihm mit lang anhaltenden Applaus. Wer wollte, konnte sich vor der Kirche noch persönlich vom Ehepaar Wirth verabschieden.